Der Vegetarismus und die Bibel

Der Vegetarismus und die Bibel

Von Rabbiner Dr. Gelles (Lissa i. P.)

Zu den Ideen, die mit fortschreitender Kultur eine immer  größere Anhängerschaft gewinnen, gehört die Idee des Vegetarismus. In der Ablehnung der animalischen Nahrung erblickt er ein geeignetes Mittel, die Menschheit zu heben, sie aus Tier- zu Geistesmenschen heranzubilden. Die Erhebung aber des Menschen zum Ebenbild Gottes, zum Geistesmenschen, bildet auch das letzte Ziel und höchste Ideal der Religion. Nur zu natürlich ist es daher, daß in ihren Dokumenten, in der Heiligen Schrift, auch die Idee des Vegetarismus verankert sein muß. Ja, sie ist mehr als bloß verankert, sie ist konsequent durchgeführt:

Himmel und Erde waren geschaffen, erstes Grün bedeckte die junge Flur, schüchtern wagten sich die Sträuchen hervor, unsicher griffen die ersten Bäume mit ihren Aesten und Zweigen in die Luft. Die Sonne zog zum erstenmal ihre Bahn und traf mit ihren Strahlen die Wasser, in welchen die ersten Fische sich munter tummelten, während vom „Trocknen“ die Vögel aufstiegen und im ersten Flügelschlag ihre Kraft versuchte . Durch Wald und Feld streifte das Wild und aus lachenden Auen lagerte sich das Vieh. Da öffnete noch einmal die Erde ihren Schoß und gebar [Adam] „die Menschheit“. [] „Gott begrüßte sie“ und sprach: „Sehet, ich gebe euch alles samentragende Kraut auf der Erdoberfläche und alle Bäume, an denen samentragende Baumfrüchte hängen; [] „euer sollen sie sein zur Speise. Und allen Tieren der Erde, allen Vögeln des Himmels, allem, was sich regt aus der Erde, in welchem eine Lebeseele ist, alles grüne Kraut zur Speise [] und so geschah es.“ (1. Buch Moses 1, 28 bis 30). Aus dieser Stelle ergibt sich ganz klar, daß es im Plan der göttlichen Vorsehung lag, den Menschen und auch den Tieren die animalische Nahrung zu verbieten, zu untersagen. Raschi, der es stets versteht, mit wenigen Worten viel zu sagen, erklärt in Anlehnung an Sanhedr. 59b das Verbot der animalischen Speisen damit, daß man ja ein Tier töten müßte, um zum Genuß seines Fleisches zu gelangen [] Es will nun so scheinen, als habe die Gottheit später — vergleiche 1. Buch Moses 9, 3 ff. die noachitischen Gebote — ihren Plan, die Aufrechterhaltung des Verbotes des Tiergenusses, endgültig aufgegeben. Begegnen wir doch außerdem später den Speisegesetzen, die einen großen Raum einnehmen. Doch das ist nicht der Fall.

Dem Bild von der ersten Menschheit, wie wir es eben kurz skizziert haben, steht in Jesaja Kap. 11 das Bild der letzten oder
messianischen Menschheit gegenüber. In ihm erkennen wir, wie es um die Zeit des heiligen Gottesfriedens auf Erden aussehen wird: [] „und der Löwe wird wie das Rind mir Stroh fressen“. Der vom göttlichen Geist erfüllte Prophet, der mit seinem seelischen Auge bereits die messianische Menschheit vor sich sieht und mit weitausschauendem Blick in die Zukunft hineinragt, bedient sich nicht dieser Worte, nur um etwas Schönes zu sagen; es ist ihm heiliger Ernst mit allem, was er verkündet. Er begnügt sich nicht mir der Schilderung, „daß Wolf und Lamm, Pardel und Böcklein friedlich beisammen lagern und von einem kleinen Knaben sich leiten lassen“. Er bringt den Grund: er sagt, der ursprüngliche Plan der göttlichen Vorsehung, daß auch das Tier nur Planzennahrung frißt, kommt zur Verwirklichung. Wenn aber schon das Raubtier, das fast ausschließlich von animalischer
Speise lebt, dieser entsagen wird, um wieviel mehr der Mensch! Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang Jesaja Kap. 66, Vers 3 [] „Wer den Ochsen schlachtet, erschlägt einen Menschen.“ Sollte es sich hier nur um die Gleichzeitigkeit zweier verschiedener Handlungen und nicht auch um einen kausalen Zusammenhang handeln?!

Wie lassen sich nun die biblischen Speisegesetze in diese Gedanken einfügen? Die Opfer können wir übergehen, da sie nur ein „Zugeständnis des Mose an Israel“ bedeuten und sich außerdem überlebt haben. Wir sehen, daß die Bibel gerade durch die Speisegesetze zum Vegetarismus hinführt. Im 1. Buch Moses, Kap. 9 heißt es [] „alles, was sich regt und lebt, sei euch zur Speise sreigegeben“. Diese schrankenlose Erlaubnis wird dann 3. Buch Moses, Kap. 11 auf Wiederkäuer mit gespalteten Klauen, auf Fische mit Flossen und Schuppen reduziert. So erhalten die Speisegesetze eine neue Beleuchtung, sie bilden den Anfang der Rückentwicklung der Menschheit zum Vegetarismus und verlangen, daß sich der Mensch Schranken in seinem Fleischgenuß auferlege.
Ist es doch überhaupt notwendig, sich daran zu erinnern, daß sich die biblischen Speisegesetze zum allergrößten Teil auf den
Genuß von Tieren erstrecken. Es folgt aber auch daraus, daß die biblischen Speisegesetze — wenn sie konsequent weitergeführt
werden sollen — zum Verzicht auf die animalischen Speisen führen müssen. Der moralische Grund, der den Speisegesetzen untergelegt wird — die Erziehung zur Selbstbeherrschung -, wird erst dann allseitige Anerkennung ernten, wenn so die Menschen immer mehr zur vegetarischen, d. h. zur natürlichen Nahrung angehalten werden. Somit stehen natürliche Nahrung und Speisegesetze nicht im Widerspruch miteinander. Vom schrankenlosen Fleischgenuß durch das Speisegesetz zur natürlichen Nahrung 1).

l) Wir können nicht sagen, daß uns diese originellen Ausführungenvollkommen überzeugt haben und sind gern bereit, einer Entgegnung Raum zu geben. Die Red.

Erschienen in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 82. Jahrg., 31. Mai 1918, Nr. 22, S. 257-258. Online