Dass es keine jüdische Nackt- und Freikörperkultur gibt oder zu geben scheint, ist nicht zuletzt insofern interessant, als die Freikörperkultur für die Lebensreform, besonders die Lebensreform in Deutschland, eine zentrale Rolle spielt, sie sich wesentlich über sie definiert. Der befreite, gesunde, nackte Körper und die Sonne sind Metaphern, die gelebt wurden, die aber auch künstlerisch gestaltet und überhöht und photographisch inszeniert und in zahlreichen Zeitschriften propagiert wurden.
Dabei scheint sich das eine aus dem anderen zu ergeben. Die Photographie ist das Medium der Frelkörperkultur, das gtelchzeltlg realistische Nähe und durch Stlllslerung Distanz schafft, andererseits bietet sich gerade der menschlche Körper dem Medium Zeitschrift und seinen zu Beginn beschränkten Möglichkeiten der Reproduktion von Photographie an, eignet er sich neben Porträts dafür doch weit besser als andere traditionellen Bildgattungen wie etwa die Landschaft oder das Stilleben.
Jugendbewegung
Palästina
Dass jüdische Einwanderer und Einwanderinnen die Nacktkultur nach Palästina mitgenommen haben, geht aus einem humoristischen Hinweis unter dem Titel Gewöhnung 1934 in der Berliner satirischen Zeitschrift Kladderadatsch hervor:
Die arabische Zeitung „Falastin“ protestiert gegen die „jüdische Nacktkultur“ in Palästina, die durch Einwanderer in Tel Aviv eingeführt worden ist. Es sei den Arabern nicht gelungen, dem Treiben dieser Juden Einhalt zu gebieten, um so weniger, als sich die Polizei in dieser Frage für unzuständigerklärt habe.
Die Polizei kann wirklich nichts dafür, wenn die nackten Juden den Arabern mißfallen!1
So gab denn auch Amfang des darauffolgenden Jahres beispielsweise ein Beitrag unter dem Titel Fünf Ratschläge an Palästina-Wanderer in der Gemeinde-Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs zu bedenken:
So magst Du zum Begriff des „festen Preises“ eine andere Einstellung haben als der Araber , dafür denkt er wieder anders über Nacktbaden und über ausgeschnittene Kleider, als vielleicht Du. Du mußt mit diesem Volke leben, so lerne es verstehen. Achte den Araber!2
Adolf Koch
Dass bei Juden und Jüdinnen jedoch durchaus Interesse an der Nacktkultur bestand, belegen die Berichte, wonach sich Adolf Koch, der wichtigste Vertreter einer sozialistischen Nacktkultur in Deutschland, geweigert habe, jüdische Mitglieder aus seiner Bewegung auszuschliessen.3 Und es gibt einen Bericht mit dem Titel „Ein Jude spricht sich frei“,der 1953 im Freikörpermagazin Helios erschienen ist. (Helios, Heft 35, Juli 1953. Online: Ein Jude spricht sich frei auf der Website FKK-Museum.)) Darin berichtet Horst Naftaniel, wie er zu Koch und seiner Bewegung gekommen ist:
Damals war ich auch in der „Deutsch-jüdischen Jugendgemeinschaft‘: in derjungen und Mädchen
„organisiert waren. Da lernte ich ein Mädel kennen, die aber keineJüdin war: sechzehn Jahre, klein, zierlich, aber energisch. Und diese kleine „Lie““gab mir das, was mir fehlte: einen Blick in die Weite der Welt. Wie waren verliebt, aber niemals mehr. Es war eine echte Zuneigung. Lie war Mitglied der Körperkulturschule Adolf Koch in Berlin. Sie hatte mir viel von den Menschen, die sich frei bewe gen, ohne Kleider und ohne Scheu erzählt, auch von den aufklärenden Vorträgen und von den re gelmäßigen ärztlichen Untersuchungen.“
„Eines Abends faßte ich Mut und ging mit. Mit einer Selbstverständlichkeit sagten sich alle „DU““- alle außer den Lehrern waren nackt. Es wurde gelacht, geneckt, gescherzt, in der Gymnastik gear beitet, gespielt, gesungen, geduscht, gesonnt… Aber mir war es durchaus nicht selbstverständlich,“
daß mich weder Adolf Koch noch sonstjemand nach meiner Religion oder Rassefragte.
Und er fügt an:
Ich war das erste Mal Gleicher unter Gleichen.
„Die Selbstverständlichkei t,mit der sich Naftaniel der Bewegung anschloss und anschlies“
„sen konnte, mag aus heutiger Sicht erstaunen. Aber es ist anzunehmen, dass er kein Ein zelfall war,zumindest im Umfeld der sozialistischen Bewegung in Berlin.“
„Dass der Beitrag 1953, zudem unter dem ebenso ein Bekenntnis verheissenden als auch“
„provozierenden Titel „Ein Jude spricht sich frei““,erschien,ist kaum ein Zufall. In jenem Jahr übernahm Koch die Schriftleitung der Zeitschrift Helios.3 Wurde die Zeitschrift An fangs noch vom Deutschen Verband für Freikörperkultur (DFK? anerkannt,war sie das seit 1961 nicht mehr. Der Grund dafür war die Beschäftigung mit dem Thema Sexulität. Schliesslich musste auch Koch selbst, der die Schriftleitung der Zeitschrift bis 1966 inne“
„hatte,den Verband verlassen.Die aufgeklärte Gesellschaft war so aufgeklärt nicht,wie“
„sie sich gerne gab,im Jahrzehnt der sexuellen Revolution.“
Illustration: Die Broschüre Wir sind nackt und nennen uns Du! Bunte Bilder aus der Frei
körperkulturbewegung von Adolf Koch erschien 1932 im Ernst Oldenburg Verlag in Leipzig.
„1. [fil]“
„2. . [fil]
„3. Ernst Horst,Die Nackten und die Tobenden. FKK – Wie der freie Körper zum deutschen Kult wurde, München 2013. [fil]“
4. Ebda. [fil]
Veröffentlicht in:Freikörperkultur
„Schlagwörter: Adolf Koch, Berlin“
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- Kladderadatsch, 87. Jahrg., 30. September 1934, Nr. 39, S. 624, Online. [↩]
- Ernst Simon, Fünf Ratschläge an Palästina-Wanderer, in: Gemeinde-Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, 11. Jahrg., 1. Januar 1935, Nr. 19, S. 163, Online. [↩]
- Zu Adolf Koch etwa Andrey Georgieff, Nacktheit und Kultur. Adolf Koch und die proletarische Freikörperkultur, Wien 2005, und John Alexander Williams, Turning to Nature in Germany. Hiking, Nudism, and Conservation, 1900-1940, Stanford 2007, insbesondere S. 23-65, beziehungsweise die Übersetzung eines Kapitels daraus unter dem Titel Der Körper fordert seine Rechte: Nudismus in der Arbeiterbewegung 1919-1935 mit Ergänzungen oder Adolf Koch auf der Website FKK-Museum von Michael Otto. [↩]